Im Anschluss an die Lernreise nach Paris, reisen Ulla und Beatrice noch weiter nach Lille zu SuperQuinquin – der Supermarkt, in dem du der Held bist. Dort treffen sie Nicolas Philippe, den Geschäftsführer. Er nimmt sich Zeit und führt uns durch den ersten genossenschaftlichen Supermarkt in Lille – ein Bericht.
Autorin: Beatrice Stude
Es ist ziemlich kalt als wir vom Bahnhof losgehen. Die Gegend wirkt ein wenig trist, die Geschäfte im Erdgeschoss stehen teils leer – es ist ein grauer Novembertag. Wir biegen in die Rue Pierre Legrand und da sind wir: Der ungezogene Junge erstrahlt mit Cape und Einkaufswagen als Signet über dem Geschäft: »SuperQuinquin – participatif e coopératif«. Die halbe Fassade ist zugeklebt, denn neben dem Eingang wird auch angeliefert.
Wir treten durch die Schiebetür und melden uns an. Es ist ein langer Gang bis ins Geschäft, vorbei an den Kassen, mit Einblicken in den Vorbereitungsraum. Die rechte Wand ist holzvertäfelt: Hier lesen wir Community-Angebote aus der Nachbarschaft, wie auch die Wünsche für neue Produkte, die hier aufgehängt werden. Die drei Kassen sind ebenfalls holzverkleidet.
4.500 Produkte – auch lose und flüssige Ware
Gleich nach den Kassen ist Nicolas Büro mit gutem Überblick in den Verkaufsraum: Zu Beginn hatte SuperQuinquin 500 Produkte, heute sind es 9-mal so viele. Zunächst hatten sie sehr wenig Obst und Gemüse. Der Verkaufsraum nimmt eine rechteckige Fläche ein. Was sofort auffällt, ist eine etwas niedere Decke und Holzregale – großteils von Mitgliedern selbst gebaut. Alles ist sehr geordnet, einzig das etwas windschiefe Brotregal tanzt etwas aus der Reihe.
„Der Motor sind Obst und Gemüse, dass zieht die Leute in den Supermarkt. Bei diesen Frischeprodukten ist Qualität sehr wichtig.“,
erläutert uns Nicolas. Es gibt drei Kühllagerräume für die unterschiedlichen Temperaturanforderungen der Produkte.
So manches gibt es unverpackt zu kaufen: Aus Spendern können Mandeln, Haselnüsse, rote Linsen und dergleichen abgefüllt werden. Das Abwiegen übernimmt dann ein kundiges Mitglied – das hat sich als sehr praktikabel erwiesen.
Es gibt auch flüssige Ware zum Abfüllen: Olivenöl, Apfelweinessig, Shampoo und vieles mehr kann in Flaschen abgefüllt werden. Es gibt nur eine Flaschengröße, sonst wird es kompliziert. Diese Flaschen gibt es zu kaufen und Mitglieder reinigen diese selbst und bringen sie zum erneuten Abfüllen wieder mit.
Zum Bio-Vanille-Joghurt haben sie jetzt auch ein konventionelles Produkt ins Sortiment genommen, und bieten nun generell zu den Bio-Produkten auch immer ein konventionelles an – da die Mitglieder aus der Gegend nicht so viel Geld haben. Nun funktioniert es besser, denn jedes Mitglied soll hier alles kaufen können, was es braucht. Für Milch, Joghurt, Aufschnitt und Fleisch gibt es an einer Wand entlang Kühlregale mit Türen.
Für den baldigen Ablauf von Produkten gibt es Hinweisschilder. Rabatte gibt es nicht. Auch keine Ware an der Kassa – einzig ein versperrtes Regal mit hochwertigen Ölen, Geschenkpapier für Weihnachten und wiederverwendbare Sackerln.
Ich wünsche mir …
Jedes Mitglied kann sich Produkte wünschen. Diese recherchiert dann die Sortimentsgruppe. Manchmal gab es die Produkte bereits, sie wurden wohl nicht gefunden oder die gewünschten Produkte kommen ins Regal, werden aber nicht gekauft. Bei einer Schokolade aus der Bretagne hat es hingegen sehr gut funktioniert: gute Qualität zum günstigen Preis – ein Mitglied hatte die Schokolade anderswo entdeckt und vorgeschlagen.
Ein durchschnittlicher Einkaufskorb ist bei SuperQuinquin rund 50 Euro. Im Monat kaufen die Mitglieder im Schnitt für 150 Euro ein. Der Jahresumsatz betrug 2020 rund 1,8 Mio., Ziel waren 2,0 Mio. Euro – sie machen derzeit noch Verluste.
Dabei sein und bleiben
Die Hälfte der Mitglieder kommt aus der Gegend um den Supermarkt, die andere Hälfte aus der Innenstadt und der weiteren Umgebung. SuperQuinquin liegt im Stadtteil »Fives«, der ehemalige Industrievorort ist im Umbruch nachdem die Fabriken geschlossen haben. Rund 19.000 Menschen leben in Fives, im Osten von Lille. Circa 230.000 Menschen leben in der Großstadt im Norden Frankreichs – Brüssel ist nah, Paris doppelt so weit entfernt.
Die Coopérative SuperQuinquin hat derzeit 1.050 Mitglieder. Manche Mitglieder, die nicht mehr einkaufen kommen, behalten ihren Genossenschaftsanteil – sie werden damit von aktiven zu finanziell unterstützenden Mitgliedern ohne Stimme.
Neue Mitglieder kommen durch Mundpropaganda und über die sozialen Medien. Zu Beginn hatten sie auch Journalist*innen da und waren im Fernsehen. Das hat SuperQuinquin über seine Netzwerke hinaus bekannt gemacht. Die neuen Mitglieder werden zu einem Willkommens-Treffen eingeladen: Eineinhalb Stunden, in denen sie alles erklärt bekommen. Derzeit wird ein weiteres Treffen geplant, nachdem die neuen Mitglieder ihre erste Schicht hatten.
Mitentscheiden
Derzeit haben die Produkte bei SuperQuinquin 23 Prozent Rohaufschlag, lediglich auf Obst, Gemüse und lose Ware sind es 26 Prozent, da es hier mehr Abfall und Verluste gibt.
Die Mitglieder haben in der letzten Generalversammlung für das Erhöhen des Rohaufschlages auf die 23 beziehungsweise 26 Prozent gestimmt. 60 Prozent der anwesenden Mitglieder stimmten dafür. Dies war notwendig, da der Supermarkt noch nicht kostendeckend läuft: Die Mitgliederanzahl stagniert und es fehlen auch die Auto-Parkplätze.
Darüber hinaus entscheiden die Mitglieder in der Generalversammlung nicht viel. Es ist eher der Ort, wo sie sich informieren und diskutieren können: Wo die Geschäftsführung erklärt, warum sie die Dinge tun und wie sie sie tun. Nicolas will die Mitglieder gern noch mehr einbinden. Wobei und wie ist noch im Entstehen.
Einmal im Quartal findet eine Generalversammlung statt. Online findet sie nicht so viel Anklang. In Präsenz wird dafür ein großer Raum oder Saal angemietet: An die 150 Mitglieder kommen zu den Generalversammlungen.
Fünf Schichten pro Tag
An die 40 Leute arbeiten täglich im Supermarkt mit. Es wird in fünf Schichten gearbeitet: In den Tagesrandschichten sind 10 Leute in einer Schicht, tagsüber eher weniger. Eine Schicht dauert 2 Stunden und 45 Minuten.
Die Schichten, wie auch der Warenfluss, werden über Odoo verwaltet: Das ist eine Software mit offenem Quellcode, mit der Unternehmensressourcen geplant werden können. Bis Anfang 2022 ist geplant, dass das Einteilen und Wechseln von Schichten einfacher wird: Wenn Mitglieder ihre Schicht nicht wahrnehmen können, können sie eine andere Schicht übernehmen und die bisherige als »unbesetzt« anmelden – bisher ist nur der eins zu eins Schichtentausch mit einem anderen Mitglied möglich. Zu Beginn wurden viele Schichtentausche über E-Mail und Telefon abgewickelt mit enormen Personalaufwand.
Wer nicht arbeiten kommen kann und sich nicht kümmert, also abmeldet oder tauscht, muss zwei Wiedergutmachungsschichten arbeiten. Wenn Mitglieder mit zu vielen Schichten im Minus sind verlassen sie oft die Coopérative.
Sonst läuft vor Ort fast alles auf Papier.
Supermarkt mit Garten
Tageslicht fällt von hinten in den Supermarkt und beim Einkaufen hast du einen schönen Blick in den Garten und vom Garten in den Markt. Der Garten ist etwas verwildert, aber recht großzügig. Nicolas führt uns durch den Garten zum dazugehörigen Haus, das für Besprechungen genutzt wird.
Die Auflagen des Brandschutzes machten den Ankauf des Gartens und Hinterhauses erforderlich. Damit es für die einkaufenden und mitarbeitenden Mitglieder einen zweiten Fluchtweg gibt.
Dafür brauchten sie 1.000.000 Euro: Sie fragten die Mitglieder 200.000 Euro bereit zu stellen. Die verbleibenden 800.000 Euro bekamen sie von der Bank. Jedoch als der Kreditvertrag mit der ersten Bank unterschrieben werden sollte, machte diese einen Rückzieher. Mit der nächsten Bank hat es dann funktioniert.
Außerdem wurde die Coopérative SuperQuinquin von der Region und der Stadt unterstützt. In Summe haben sie zu der Million noch 200.000 Euro, teils als zinsenlosen Kredit und Geld aus einem Privatfonds für die Sozialwirtschaft erhalten – so hatten sie letztlich mehr Geld als sie brauchten.
Warum kam SuperQuinquin nach Fives?
Sie haben bewusst den Stadtteil Fives ausgewählt und ein Lokal hier gesucht: Weil es hier keine Bio-Geschäfte gab und viele Lokale leerstehend waren. Es ist eine ärmere Gegend. Am Anfang waren sie zu fünft, vier Ehrenamtliche, nur Nicolas arbeitete entgeltlich.
„Die ersten 3-5 Monate musst du gefühlt alle 2h 45 min alles nochmals wiederholen. Nach 5 Monaten hat es sich dann eingespielt.“,
erinnert sich Nicolas an die Zeit nach der Eröffnung. Heute sind sie sechs Angestellte, davon fünf in Vollzeit – einschließlich Nicolas. Als Geschäftsführer verdient er etwas mehr als die anderen.
Wachsen und unabhängig bleiben
Nicolas möchte das genossenschaftliche Supermarkt-Konzept verbreiten und ein oder zwei weitere Märkte in Lille aufbauen. Wir fragen ihn, worauf er besonders achten wird:
- Ein Supermarkt braucht großzügige Lagerfläche.
- Ein Supermarkt in Lille braucht Auto-Parkplätze, da Lille nicht Paris oder Wien ist.
- Ein Supermarkt soll groß starten. Es ist riskant zu klein zu starten. Je größer man anfängt, umso besser: Besseres Volumen beziehungsweise Umsätze bedeutet bessere Preise und bessere Auswahl für die Mitglieder.
Ein weiterer Supermarkt könnte auch mit weniger Mitgliedern anfangen: 800 oder 1.000 – denn ein offener Supermarkt zieht weitere Leute an. Diese genossenschaftlichen Supermärkte sollen unabhängig sein und miteinander kooperieren: Die Mitglieder sind einem Supermarkt zugeordnet, wo sie auch mitarbeiten – aber vielleicht können sie auch in den anderen einkaufen. Nicolas würde jedenfalls die Angestellten auch für die anderen Märkte mit einsetzen.
Nach unserem Besuch traf sich Nicolas am Freitag noch mit Tom Boothe, Präsident von »Coopérative La Louve« in Paris – hier gibt es einen regen Austausch.